41
Treten unsere Feinde auf natürliche Weise auf, oder schaffen wir sie erst durch unsere Taten?
Mutter Oberin Alma Mavis Taraza,
Bene-Gesserit-Archiv,
für Akoluthen zugängliche Dokumente
Die bloße Existenz des Gholas von Leto II. war für Garimi empörend. Der kleine Tyrann! Ein Baby, das die Vernichtung der Menschheit in seinen Genen trug! Wie oft mussten sie noch an die Schande und das menschliche Versagen der Bene Gesserit erinnert werden? Warum weigerten sich ihre Schwestern, aus Fehlern zu lernen? Es war blinde Hybris und Dummheit!
Von Anfang an hatten Garimi und ihre standhaft konservativen Verbündeten gegen die Schaffung dieser historischen Gholas argumentiert, und zwar aus völlig offensichtlichen Gründen. Diese Persönlichkeiten hatten ihr Leben gelebt. Viele von ihnen hatten großen Schaden angerichtet und das Universum auf den Kopf gestellt. Leto II. – der Gottkaiser des Wüstenplaneten, der sich als der Tyrann einen Namen gemacht hatte – war bei weitem der Schlimmste gewesen.
Garimi schauderte, wenn sie nur an die unaussprechlichen Gefahren dachte, die Sheeana mit diesen Kindern heraufbeschwor. Nicht einmal Paul Atreides, der lang ersehnte Kwisatz Haderach, der sich letztlich doch als unkontrollierbar erwies, hatte so großes Leid wie Leto II. über die Menschheit gebracht. Paul hatte immerhin ein gewisses Maß an Vorsicht walten lassen, hatte sich einen Teil seiner Menschlichkeit bewahrt und sich geweigert, die schrecklichen Dinge zu tun, zu denen sein Sohn später bereit gewesen war. Muad'dib hatte zumindest den Anstand besessen, sich schuldig zu fühlen.
Aber nicht Leto II.
Der Tyrann hatte sehr schnell seine Menschlichkeit aufgegeben. Ohne Bedenken hatte er die schrecklichen Konsequenzen der Verschmelzung mit einem Sandwurm in Kauf genommen und gnadenlos wie ein Wirbelsturm eine Schneise der Vernichtung durch die Geschichte gezogen, indem er das Leben Unschuldiger wie Spreu fortgeworfen hatte. Dabei hatte er selbst gewusst, wie sehr man ihn hassen würde, als er sagte: »Ich bin notwendig, damit ihr in Zukunft nie wieder jemanden wie mich braucht.«
Und nun hatte Sheeana das kleine Monster ins Leben zurückgeholt, trotz der Gefahr, dass er noch mehr Schaden anrichtete! Doch Duncan, Teg, Sheeana und andere glaubten, dass Leto II. zum mächtigsten aller Gholas werden konnte. Zum mächtigsten? Eher zum gefährlichsten! Gegenwärtig war er nur ein einjähriges hilfloses und schwaches Baby im Kinderhort.
Er würde nie wieder so verletzlich sein.
Garimi und ihre treuen Schwestern entschieden, nicht länger zu warten. Sie hatten die moralische Verpflichtung, ihn zu vernichten.
Sie und ihre breitschultrige Gefährtin Stuka schlichen durch die schwach erleuchteten Korridore der Ithaka. Aus Rücksichtnahme auf uralte biologische Zyklen der Menschen hatte Duncan als »Kapitän« regelmäßige Phasen eingeführt, in denen die Beleuchtung gedämpft wurde, um Tag und Nacht zu simulieren. Obwohl es im Grunde nicht notwendig war, sich an einen solchen Tagesablauf zu halten, empfanden es die meisten Menschen als angenehm.
Gemeinsam huschten die beiden Frauen von einer Ecke zur nächsten und stiegen durch Röhren und Liftschächte von einem Deck zum anderen. Während sich die meisten Passagiere auf die Schlafphase vorbereiteten, betraten sie und Stuka den stillen Kinderhort neben den ausgedehnten medizinischen Einrichtungen. Der zweijährige Stilgar und der dreijährige Liet-Kynes befanden sich im Kinderschlafzimmer, während die anderen fünf Gholas von Proctoren betreut wurden. Leto II. war derzeit der einzige Säugling im Hort, doch die Axolotl-Tanks würden schon bald weitere Kinder hervorbringen.
Garimi nutzte ihre Vertrautheit mit den Schiffssystemen und konnte von der Schalttafel im Korridor aus die Überwachungskameras sabotieren. Sie wollte eine Aufzeichnung des angeblichen Verbrechens vermeiden, das sie und Stuka zu begehen im Begriff standen. Gleichzeitig war Garimi klar, dass es nicht lange ein Geheimnis bleiben würde. Viele der Ehrwürdigen Mütter waren Seherinnen. Sie würden die Mörder mit erprobten Befragungsmethoden ausfindig machen, selbst wenn sie mit sämtlichen Insassen des Schiffes sprechen mussten.
Garimis Entschluss stand fest. Auch Stuka hatte geschworen, dass sie ihr Leben opfern würde, um etwas zu tun, das richtig war. Und wenn die beiden Frauen keinen Erfolg hatten, wusste Garimi von mindestens einem Dutzend weiterer Schwestern, die jederzeit das Gleiche tun würden, wenn sie die Gelegenheit erhielten.
Sie sah ihre Freundin und Partnerin an. »Bist du bereit, es zu tun?«
Stukas großes Gesicht war zwar jung und glatt, doch es hatte den Anschein unermesslichen Alters und großer Traurigkeit. »Ich habe meinen Frieden gemacht.« Sie nahm einen tiefen Atemzug. »Ich darf mich nicht fürchten. Die Furcht tötet das Bewußtsein.« Die beiden Schwestern setzten die Litanei gemeinsam fort. Garimi hatte sie immer wieder als äußerst hilfreich empfunden.
Nachdem die Überwachung ausgeschaltet war, betraten die Frauen den Hort, wobei sie die Heimlichkeit und Lautlosigkeit an den Tag legten, die sie als Bene Gesserit beherrschten. Der kleine Leto lag in einer ständig überwachten Wiege, dem Anschein nach ein unschuldiger Säugling, der völlig menschlich wirkte. Unschuldig! Garimi schüttelte den Kopf. Wie trügerisch der Schein sein konnte!
Sie hatte Stukas Hilfe eigentlich gar nicht nötig. Es konnte nicht schwierig sein, das kleine Monstrum zu ersticken. Aber so machten sich die beiden zornigen Bene Gesserit gegenseitig Mut.
Stuka blickte auf Leto und flüsterte ihrer Gefährtin zu: »In seinem ersten Leben starb die Mutter des Tyrannen bei seiner Niederkunft, und ein Gestaltwandler versuchte die Zwillinge zu ermorden, als sie erst wenige Stunden alt waren. Ihr Vater ging blind in die Wüste hinaus und ließ die Kinder von anderen großziehen. Weder Leto noch seine Zwillingsschwester haben jemals die warme Umarmung ihrer Eltern genossen.«
Garimi warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Werde jetzt nicht weich«, zischte sie. »Er ist mehr als ein kleines Baby. In dieser Wiege liegt eine Bestie, kein normales Kind.«
»Aber wir wissen nicht, wann oder wo die Tleilaxu die Zellproben genommen haben, aus denen dieser Ghola erschaffen wurde. Wie konnte man dem gewaltigen Gottkaiser eine Probe entnehmen? Wenn die Zellen wirklich von ihm stammen, warum wurde er dann nicht als Wesen halb Mensch, halb Sandwurm geboren? Es ist wahrscheinlicher, dass die Zellen aus der Zeit stammen, bevor der junge Leto seine Metamorphose durchmachte. Das bedeutet, dass dieses Kind unschuldig ist, weil seine Zellen einem unschuldigen Körper entnommen wurden. Selbst wenn er seine Erinnerungen zurückbekommt, wird er nicht der verhasste Gottkaiser sein.«
Garimi sah sie mit finsterem Blick an. »Wollen wir es wagen, dieses Risiko einzugehen? Schon als Kinder besaßen Leto II. und seine Zwillingsschwester Ghanima die ungewöhnliche Fähigkeit, in die Zukunft sehen zu können. Ungeachtet aller Einwände ist er dennoch ein Atreides. Er besitzt trotzdem das genetische Material, das zwei gefährliche Kwisatz Haderachs hervorbrachte. Das lässt sich nicht leugnen!« Ihre Stimme wurde zu laut. Als Garimi auf das Kind blickte, das sich nun rührte, sah sie, wie seine klaren, verblüffend intelligenten Augen zu ihr aufschauten. Sein Mund war leicht geöffnet. Leto schien zu wissen, warum sie hier war. Er erkannte sie ... und dennoch zeigte er nicht die leiseste Furcht.
»Wenn er hellseherische Fähigkeiten hat«, sagte Stuka verunsichert, »weiß er vielleicht, was wir mit ihm vorhaben.«
»Genau das Gleiche habe ich auch gerade gedacht.«
Wie auf dieses Stichwort hin piepte ein Überwachungsalarm, und Garimi eilte zu den Kontrollen, um ihn abzuschalten. Sie durfte nicht zulassen, dass die Suk-Ärzte aufmerksam wurden. »Schnell! Uns bleibt keine Zeit mehr. Tu es jetzt – oder ich werde es tun!«
Die andere Frau hob ein dickes Kissen auf. Garimi arbeitete hektisch an der Alarmkonsole, während Stuka das Kissen auf Letos Gesicht drückte, um das Baby zu ersticken.
In dem Moment schrie Stuka auf, und Garimi fuhr herum. Sie sah ein kurzes Aufblitzen von braunen Segmenten, eine sich windende Form, die sich aus der Wiege erhob. Stuka zog sich in panischem Entsetzen zurück. Das Kissen in ihren Händen war zerfetzt, und die Federn wirbelten durch die Luft.
Garimi konnte nicht fassen, was sie sah. Sie schien ein Doppelbild wahrzunehmen, als würden sich zwei unterschiedliche Szenen gleichzeitig an derselben Stelle abspielen. Ein aufgerissenes segmentiertes Maul mit winzigen kristallinen Zähnen bewegte sich in der Wiege und schlug nach der breitschultrigen Frau. Blut spritzte. Stuka schnappte entsetzt nach Luft und hielt sich die linke Seite. Ihr Gewand war aufgerissen, und darunter klaffte eine Wunde bis auf die Rippen.
Garimi taumelte zu ihr, doch als sie das kleine Bett erreichte, sah sie nur noch den Säugling völlig ruhig daliegen. Leto blickte sie reglos mit seinen hellen Augen an.
Stuka unterdrückte ihre Schreie und setzte ihre Fähigkeiten als Bene Gesserit ein, um die Blutung zu unterbinden. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht, während sie sich von der Wiege zurückzog, die Augen weit aufgerissen. Garimis Blick wechselte von ihr zum Kind in der Wiege. Hatte sie wirklich gesehen, wie sich Leto in einen Sandwurm verwandelt hatte?
Es gab keine Bilder von den Überwachungssystemen. Garimi würde niemals beweisen können, was sie gesehen zu haben glaubte. Aber wie sonst ließ sich Stukas Verletzung erklären?
»Was bist du, kleiner Tyrann?« Garimi konnte weder an den Fingern noch am Mund des Säuglings Blut erkennen. Leto sah sie an und blinzelte.
Die Tür zum Kinderhort flog auf, und Duncan Idaho stürmte herein, gefolgt von Sheeana und zwei Proctoren. Duncan blieb stehen und blickte mit wütender Miene auf das Blut, das zerfetzte Kissen, das Baby in der Wiege. »Was bei den sieben Höllen tun Sie hier?«
Garimi ging auf größeren Abstand zur Wiege, besorgt, dass sich der kleine Leto erneut in einen Wurm verwandelte und angriff. Als sie in Duncans funkelnde Augen blickte, hätte sie sich beinahe zu einer Lüge hinreißen lassen und erzählt, dass Stuka das Baby töten wollte und sie, Garimi, rechtzeitig eingetroffen war, um das Kind zu retten. Aber diese Lüge würde bei genauerer Nachforschung rasch in sich zusammenfallen.
Stattdessen reckte sie die Schultern. Eine Suk-Ärztin, die durch Duncans Alarm aufmerksam geworden war, traf ein. Nachdem sie das Baby untersucht hatte, ging sie zu Stuka, die erschöpft zusammengebrochen war. Sie zog das zerrissene Gewand zurück und legte die tiefe Wunde frei, die stark geblutet hatte, bevor es Stuka unter großem Kraftaufwand gelungen war, die Gefäße zu schließen. Duncan und die Proctoren schauten voller Ehrfurcht zu.
Garimi musste den Blick von der Szene losreißen. Nun hatte sie mehr Angst vor Leto II. als je zuvor. Sie deutete verärgert auf die Wiege. »Ich hatte den Verdacht, dass dieses Kind ein Monstrum ist. Jetzt gibt es für mich keinen Zweifel mehr.«